Die Architektur
Charles de Picciotto über die Planung des literaturhauses
Das Hamburger Büro Charles de Picciotto Architekten BDA, gegründet 1998, betreut Projekte von anspruchsvollen Umbauten bis zur komplexen Revitalisierung von Stadtquartieren. Wir haben mit dem Bürogründer und Inhaber Charles des Picciotto ein Interview über die Planung und Realisierung des Literaturhauses Göttingen geführt.
Lieber Herr de Picciotto, worin besteht für Sie der Reiz, in Göttingen ein Haus für die Literatur zu gestalten?
Literatur manifestiert sich beim Lesen und Hören, es entstehen individuelle und lebendige Welten in der eigenen Vorstellungskraft. Einen Raum in Göttingen zu gestalten, der eine Zuflucht in diese einzigartigen, sich immer neu erschaffenden Welten bietet, ist höchst reizvoll.
Was ist das Besondere an der Immobilie in der Nikolaistraße 22?
Das Erscheinungsbild der Nikolaistraße 22 im städtebaulichen Kontext strahlt durch die historische Straßenfassade eine gelassene Beständigkeit aus. Um das statisch tragende Sockelgeschoss zukünftig als zeitgenössisches Literaturhaus zu nutzen, wird es aus diesem Wahrnehmungskontext herausgenommen, und in einen zeitlosen Zustand übertragen. Dass die Leere zukünftig jeden Tag inhaltlich neu interpretiert werden kann, ist ein wunderschöner und lebendiger Gedanke für das Gebäude.
Welche Atmosphäre soll das Haus ausstrahlen?
Das Erscheinungsbild des Hauses im Straßenbild wird erst auf den zweiten Blick die Veränderung preisgeben. Die äußere Erscheinung verändert sich zukünftig nur durch die Erweiterung der Fenster im Sockelgeschoss. Erst beim näheren Herantreten wird die innere Veränderung sichtbar werden, das unerwartet einsehbare Raumvolumen wird eine einladende und sehr kreative Atmosphäre ausstrahlen. Das Ergebnis wird ein in höchstem Maße individuelles wie prägnantes Erlebnis sein: zeitlos und doch unterhaltsam.
Für welche Materialien haben Sie sich entschieden und warum?
Wir arbeiten im Veranstaltungsraum mit den Materialien die wir vorgefunden haben: Beton, Stahl und Putz. Wir vollenden diese zufällige Komposition alleine mit der präzisen Dreingabe von Papier. Die Grundlage unseres Konzeptes, den gesamten Veranstaltungsraum des Literaturhauses durch eine dominierende Papierwand zu definieren, lässt alle anderen Materialen in den Hintergrund rücken. Aufgrund der Zusammenarbeit mit Gerhard Steidl, erfuhr die Detaillierung und Ausarbeitung der Papierwand eine fachliche Kompetenz, die wir uns nicht besser vorstellen könnten.
Was war die größte Herausforderung bei der Planung des Literaturhauses?
Um unter das kleinteilige, Jahrhundert alte Gebäude ein weitläufiges, fast stützenfreies Raumvolumen zu erschaffen, mussten erhebliche statische Maßnahmen ergriffen werden. Die statische Lösung hat den Großteil der Planungs- und Bauzeit gefordert, wird jedoch nach Fertigstellung nicht erkennbar sein.
Wie lange hat der gesamte Prozess vom Beginn bis zur Fertigstellung gedauert?
Von der Konzeptphase im Sommer 2019 bis zur Eröffnung im Mai 2022 werden drei Jahre vergangen sein.
Wenn Sie unserem Publikum ein Buch empfehlen sollten, welches wäre es?
Mich inspiriert auch nach 30 Jahren »Moon Palace« von Paul Auster. Aktuell lese ich „Über den Prozeß der Zivilisation“ von Norbert Elias. Ein sehr empfehlenswertes Buch um Zivilisation generell zu verstehen, besonders ihre Fragilität, erscheint sie uns doch so stabil. Gerade in der heutigen Zeit stimmt es nachdenklich.
Lieber Herr de Picciotto, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Mehr über das Architekturbüro erfahren Sie hier www.depicciotto.de