Festrede von Saša Stanišić
Was musiziert ein Literaturhaus
Als Kind stellte ich mir vor, dass Häuser musizieren. Wenn ich mich arg konzentrierte, konnte ich sie wirklich hören. Manches spielte ein Instrument, manches sang, mancher Mehrfamilienblock gründete eine Band. Während sich andere Kinder einander jagend, die Knie lachend wegraspelten und makellose Köpfer in der Drina landeten, starrte ich auf Fassaden. Ja, welche Musik passte zu dem Hochhaus da, das immerwährenden Schatten warf auf unser Haus? Etwas Düsteres also: Pink Floyd? Meine Eltern sammelten Platten, und wenn sie Pink Floyd auflegten, fürchtete ich mich besonders rigoros. Ich schrie, verließ den Raum, das ist bis heute so, wenn Pink Floyd irgendwo kommt.
Ich lebte in Višegrad auf Europas staatspolitischer Atlantis Jugoslawien. Eines unserer denkwürdigsten Häuser war der Busbahnhof. Es stammte aus der Zeit der österreich-ungarischen Okkupation, hatte hohe Decken und hielt sich für was Besseres. Auch sprach es Kärntner-Deutsch oder so was. Wenn ich mir also vorstellte, dass der Busbahnhof sang, stellte ich mir jodelndes Kauderwelsch vor.
Über Busse sang der Bahnhof nie, du singst ja nicht über etwas, das mit laufendem Motor und kaputtem Auspuff vor deinem Fenstergesicht stinkt. Überhaupt meine ich, dass wir am liebsten von dem singen, das wir nicht kennen und nicht haben? (Und gerne hätten, Liebe, z.B.) - Wie alt war ich da? Ich weiß es nicht.
Alt genug, um zu meinen, coole Instrumente & Musik von uncoolen unterscheiden zu können. Cool fand ich die Gitarre und die Scorpions. Die Scorpions fand ich derart cool, dass ich mich am liebsten komplett in Leder gekleidet hätte wie Klaus Meine auf meinem Lieblingsfoto von Klaus Meine, auf dem Klaus Meine, komplett in Leder, in einem komplett ledernen Ledersessel sitzt. Es muss ihm höllenheiß gewesen sein, er sah phänomenal aus.
Uncool, behauptete ich, sei alles mit Geige. Unsere Musiklehrerin griff manchmal im Unterricht zu ihrer Geige. Sie kündigte das nicht groß an, wollte nichts vorführen, uns nichts zeigen. Vielleicht hatte sie unsere lautstarke, lauinteressierte Disziplinlosigkeit zwischendurch einfach mal satt und schaltete auf ihrem Instrument ab. Gesicht und Geige abgewandt stand sie am Fenster im Sonnenlicht, jetztvergessen ihr Selbst in einer anderen Wirklichkeit. Einer vielleicht mit Paganini in der Philharmonie und nicht mit krakeelenden Kindern im muffigen Musikraum. Aber man sollte nicht Träume anderer bevormunden.
Es irritierte uns sehr, wenn sie so ins Geigenspiel abtauchte. Lehrer gehörten uns und damit auch deren volle Aufmerksamkeit! Wir teilten die nicht mit Gegenständen oder Umständen oder Träumereien! Allemal mit der Geige nicht, diesem missglückten Versuch von Holz und Stahl, Gitarre zu werden! Wir fühlten uns ausgeschlossen, wir waren neidisch, wir lästerten über die Geige.
Eines Morgens im Mai ‘92 ging ich mit meinem Klassenkamerad Goga zur Schule, um nachzugucken, ob sie noch stand. Sie stand noch. Hier und dort war Glas kaputt, Fassade zerlöchert, die Eingangstür lag, aus den Angeln gesprengt, im Hof.
Wir stiegen über Schutt durch leere Gänge, pflückten Patronenhülsen. Im Musikraum kniete die Musiklehrerin vor ihrer zertrümmerten Geige. Schien uns nicht zu sehen, als wir den Raum betraten, nicht zu hören, als unter unseren Sohlen Scherben knirschten, und wir die dumme Frage stellten, ob alles in Ordnung sei.
Um sie herum Glas, Dreck, Brandgeruch, und wenn ich heute Geige solo höre, sehe ich meine Musiklehrerin, ihr Bild, aber nicht so, nicht kniend vor Zerstörung, sondern am sonnendurchfluteten Fenster, den Kopf wie zärtlich an ihre Geige gelehnt, mit einer, uns Ignoranten, unbekannten Komposition im Spiel, kurz nicht Beruf, sondern Person, nicht Dienst, sondern Kunst.
Die Schule steht noch heute, und die Lehrerin steht kurz vor Rente. Spielt sie noch manchmal im Unterricht? Alles sonst still: die fragile Kindheit, das unzuverlässige Erzählen. Könnte unsere Schule musizieren, die Geige würde zu hören sein.
Was musiziert eigentlich ein Haus im Krieg?
Was musiziert dieses hier, jetzt und morgen?
Das Hochhaus meiner Großmutter Kristina hätte vor dem Krieg »Jugoslawin« gespielt, einen naivschönen Schlager unserer »Lepa Brena« (Der schönen Brena). In »Jugoslawin« wird das lyrische Schlager-Ich gefragt, woher sein Benehmen und Aussehen kämen. »Wer erschuf dich so feurig?« Oder: »Wer vergoldete dein Haar?« Im Refrain dividiert die Gefragte ihren Körper auf jugoslawische Landesteile. Die Augen seien »blaue Adria«, die Seele sei slowenisch-nostalgisch. Sie sei eben Jugoslawin.
Das Jugoslawien-Loblied ist zwei Jahre älter als Jugoslawiens Komplettzusammenbruch. Zum Hochhaus der Großmutter passte es, weil dort viele verschiedene Ethnien wohnten. Im zweiten Stock eine ältere Serbin namens Radinka. Als ich über musizierende Häuser fantasierte, tanzte sie bei einer Hoffeier mit Mann und Sohn zu Lepa Brenas Jugoslawin. Drei Jahre später fielen beide in Gefechten in Zentralbosnien.
Für das Haus meiner anderen Großmutter, Mejrema, stellte ich mir Musik aus Italo-Western vor, vornehmlich aus jenen, in denen Clint Eastwoods blaue Augen oder Terence Hills blaue Augen die Hauptrolle hatten. Schön Ennio Moricone, schön langsam gepfiffen.
Meine Großmutter liebte die Cowboy-Filme, wie wir damals sagten, und überhaupt die ganze Chose mit dem Wilden Westen, Mittagsglut, Staub, Hand am Colt. In ihr war eine grandiose Goldgräberin oder besser Bankräuberin verloren gegangen. Aus unserem Supermarkt stahl sie immer wieder mal eine Kleinigkeit, und wurde nie erwischt.
Mir war das irgendwie ein bisschen peinlich. Jetzt gar nicht so, weil ich den Skandal befürchtete, sie war zu gut, mir war es peinlich, weil ich mich nicht traute, mitzumachen. Bis heute ist das einzige, was ich klaue, Kissen aus Hotels während der Lesereise.
Ein großer Wunsch meiner Großmutter war ein Roadtrip durch Texas. Gereicht hat es zu einem Roadtrip durch ein Leben als Hausfrau, die drei Kinder und eine Regalwand voller Videokassetten großgezogen hat. Nachdem die serbischen Truppen die Stadt besetzt hatten, vertrieben oder töteten sie die muslimische Bevölkerung. Sie brannten Häuser nieder, ganze Familien starben in Flammen, ihre Schreie hallen heute in Gerichtsakten, und was musiziert ein Haus, das brennt?
In der Familie hält sich das Gerücht, Großvater habe auf gepackten Fluchtkoffern gesessen, während Großmutter »Für eine handvoll Dollar« zu Ende sehen wollte. Ich glaube das nicht. Ich glaube, ich habe mir das ausgedacht für diesen Text. Die beiden entkamen der Hölle, das muss ich mir zum Glück nicht ausdenken. Für viele andere – heute wieder – wäre Rettung Fiktion.
Im Haus quartierten sich Soldaten ein. Sahen sie sich wohl, ermattet von Raub und Mord, die Western meiner Großmutter an?
Die Großeltern kehrten niemals zurück. In ihrem Haus war ich zuletzt zu Recherchen für »Herkunft«. Musste klingeln, mich erklären. Im Wohnzimmer alles anders als in der Erinnerung. Ich stand da zwischen fremden Möbeln, ein Eindringling, und wollte ich mich der Filmmusiken erinnern. Hörte nichts, dann Schüsse, erinnerte und filmische. Sah: Großmutter und mich vor dem engen Fernseher, vor der weiten Prärie, vor einem Saloon, verstaubte Ponchos, wiehernde Pferde.
Ihre Kleider riechen bunt und nach Händen in Mehl, sie ist konzentriert und schön wie alle konzentrierten Menschen schön sind, da stakst aus dem Saloon John Wayne und blinzelt gegen die Sonne. High Noon.
Und da ist sie doch, die Showdown-Melodie setzt ein, Moricone, John Wayne zuckt den Revolver und der Schuss fällt jetzt in Göttingen; alles ist einen einzigen Takt voneinander entfernt, man braucht bloß einen, der erzählt, und einen, der zuhört. Literaturhaus als Raum für das Zeit-Kontinuum. Aus dem meine Großmutter zu Clint Eastwood mitspricht für euch in einer Sprache, die sie gar nicht beherrscht:
You see, in this world, there's two kinds of people, my friend: those with loaded guns, and those who dig. You dig.
Die Schalter waren nicht besetzt als der Busbahnhof und die parkenden Busse beschossen wurden. Zwei fuhren nie wieder los. Es waren aussortierte alte Dinger aus Deutschland, einer wies noch »Hochofenstraße« als Ziel, es existiert eine Haltestelle mit dem Namen in Dortmund, wo sonst.
Nach dem Krieg rosteten die Busse lange vor sich hin auf ihrem letzten Parkplatz. Straßenhunde leckten darin ihre Welpen sauber. Das Bahnhofsgebäude könnte ich heute verstehen, aber das ruinöse Gemäuer schweigt. Unkraut greift durch die Fenster in diesen Text hinein. Ankünfte gibt es keine mehr.
Das Haus meiner Kindheit hat Songs der Band Azra gespielt. Azras Musik war gemeinsamer Soundnenner zwischen meinen Eltern und mir. Rockig ungesüßt mit dezidiert leierndem Gesang von Johnny Štulić und Liedtexten, in denen es ernst zuging: unsubtil politisch, körperlich und sinnlich, der Tod war Thema und mit ihm ja stets verbundenen: Liebe und Lust.
Ich liebte das alles! Liebte es, zu verstehen, dass es in den Songs ernst zuging – wiewohl ich oft zu doof war, um Zusammenhänge zu verstehen, etwa die regierungskritischen, wenn Štulić sang:
»Gehorchst du nicht, Hurensohn, so wirst du hungern.«
Das Vulgäre schluckte ich und war stolz, dass ich es durfte – das Anrüchige mitkriegen.
Bei Scorpions begeisterte mich das Pompöse, bei Azra las ich Songtexte nach. In einem anderen Leben wäre diese Band meine musikalische Initiation in die Pubertät gewesen, in mein eigenes Nachdenken über Politik und Körperlichkeit, Sinnlichkeit und Tod. Dann aber kam der Krieg … und so viele Sätze beginnen mit: »Dann aber kam der Krieg …« und jemand wird sich die Mühe machen, jede einzelne Schallplatte aus dem Sammlung meiner Eltern zu zerbrechen.
Davor noch kam ein Gespräch mit meinem Vater über den Bandnamen – über Azra. Vater erzählte, die Band habe sich den Namen wegen einer berühmten Sevdalinka gegeben mit dem Titel »Kraj tanana šadrvana« (Am kleinen Brunnen). Sevdalinke, das sind bosnisch-herzegowinische Volkslieder, traditionell melancholisch, an sich und der Welt, am Liebesunglück, aber auch Glück leidend, ähnlich dem portugiesischen soudad: voll Sehnsucht& Schmachterei.
An dem kleinen Brunnen beobachtet ein junger Sklave allabendlich die Tochter des Sultans, ist ergriffen von deren Schönheit. Von Abend zu Abend wird er aber blasser und blasser. Die Prinzessin fragt irgendwann – gegen Standesgepflogenheit – wie er heiße und woher er komme. Mohammed heiße er, antwortet der Sklave, er komme aus dem Jemen und gehöre dem Stamm der Asra an, jener Asra, »što za ljubav život gube i umiru kada ljube!«– »die für Liebe sterben, und die sterben, wenn sie lieben.«
Damit endet das Lied, damit endet vielleicht die Liebe. Vater spielte mir die Sevdalinka vor, ich weiß nicht, in welcher der vielen Versionen, ich war vielleicht elf und sofort ergriffen, wollte lieben und singen, nur sterben noch lange nicht.
In Vorbereitung für diesen Vortrag bin auf die für mich neue und überraschende Information gestoßen, dass der berühmten Sevdalinka ein gleichnamiges Gedicht zugrunde liegt.
Das wäre nicht weiter ungewöhnlich, viele Sevdalinka-Lieder sind Vertonungen von Poesie – das Überraschende war, dass es sich bei dem Gedicht um eine Übersetzung handelt.
Der bosnische Übersetzer ist unbekannt, viele wollten es gewesen sein! Der eigentliche Urheber aber steht fest, es handelt sich um einen deutsch-jüdischen Schriftsteller, dessen Name nur knallharten Literaturliebhabern bekannt sein dürfte: Heinrich Heine. Bei Heine trägt das Gedicht den Titel »Der Asra«. Erschienen ist es 1851, und die Antwort des Verliebten lautet:
Und der Sklave sprach: ich heiße
Mohamet, ich bin aus Yemmen,
Und mein Stamm sind jene Asra,
Welche sterben wenn sie lieben.
In Bosnien angekommen ist »Mohamet« etwa 60 Jahre später. Auf welchen Wegen – man weiß es nicht. Möglich ist sogar eine Abzweigung über eine zweite Sprache, da die Übersetzung des Heine-Originals sehr frei anmutet.
Aber auch Heine hatte nicht ganz von selbst die Idee zum Gedicht. Dass es überhaupt existiert, verdankt sich Heines geneigtem Interesse für arabische Kunst, seiner aufrichtigen Neugier auf islamische Kultur- und Religionsgeschichte – er fand Stoffe und Ereignisse, die ihn zu eigenen Arbeiten bewegten.
So zum Beispiel die lange, friedlich-fruchtbare Koexistenz von Islam, Judentum und Christentum in Spanien sowie deren gewaltsames Ende, die Heine zum Thema seines »Almansor« machte, eines leider mega langatmigen Romeo & Julia Verschnitts, angesiedelt in Granada. (Das Stück kennt man heute höchstens für den prophetischen Satz: Dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen.)
»Der Asra« entstand, nachdem Heine die von Anton Theodor Hartmann 1802 aus dem Arabischen übersetzte Gedichtsammlung der sieben Mu'allaqat gelesen hatte, mit dem fantastischen Titel »Die hellstrahlenden Plejaden am arabischen poetischen Himmel.«
Kombiniert mit einer Stelle über das bedingungslos liebende Volk der Asra, die Heine wiederum von Stendhal geliehen hat, entstanden in der Summe jene Verse, welche auf dem Balkan als Lied bis heute eine derart große Geltung besitzen, dass niemand von dort, mit dem ich in letzten Tagen sprach, glauben konnte, Der Asra, also Kraj tanana šadrvana sei keine originär bosnische Versdichtung.
Nein, sie ist das nicht, und ist es irgendwie doch: Wegen der freien Übersetzung einmal, und, wichtiger, wegen eben dieser immensen Wirkkraft ihrer Evolution in die Liedkunst der Sevdalinka, ist dieser Stoff so geworden, dass beim Einsetzen der Melodie, wenn die ersten Verse fließen, in Bosnien die ersten Tränen fließen, und fliegen – spätestens, wenn der Sklave seine vergebliche, endgültige Liebe bekennt – die ersten Gläser an die Wand; Scherben als Plädoyer für die unmögliche Liebe, die alles ist: Freude und Trauer, Leben und Tod.
Der Asra erzählt aber viel mehr als seine Vereinnahmung, er erzählt von einer freien Reise von Literatur, ihrer steten Bewegung, wenn man sie lässt und sich einlässt, von Idee zur Rezeption, von Haus zu Haus, erzählt von einem, Kulturen und Traditionen verbindenden und zugleich übergreifenden und sich wandelnden Austausch von Inhalt, Stil, Wissen und Wirkung.
Der Stoff taucht zum ersten Mal im 7. oder 8. Jh. auf als klassisch orientalische Liebespoesie. Sie wird in arabische und persische Dichtung adaptiert und gelangt viel später, nach beharrlicher Wanderung, durch Bibliotheken und Übersetzer und uns, Lesende, nach Frankreich zu Stendahl, nach Deutschland zu Hartmann und Heine, und weiter, immer weiter, in jenes bergige, trotzige Bosnien, wo sie zur Hymne der unbedingten Liebe wird, zur Namenspatin einer Rockband und in diese seltsame Vorstellung eines Jungen, mir, in Jugoslawien, welcher sein Elternhaus das Lied dieser Band singen lässt, und dieser Junge ist hier jetzt heute in Göttingen und behauptet: So geht: Weltliteratur.
(Dabei ist es zweitrangig, ob das Gedicht auf Sie oder mich dieselbe Wirkung entfalten kann heute wie für seine vielen Reisebegleiter und Sängerinnen unterwegs.)
Bin ich heute in Višegrad, sehe und höre ich keine Musik mehr. Bin selbst eine Art Bus geworden meines Kopfbahnhofs, kutschiere Geschichten, von Krieg und Zeit komponiert, schallplattenhaft verkratzt, von dort nach hier, von damals nach jetzt.
Großeltern habe ich zu literarischen Figuren erhöht, weil ich daran glauben will, dass meine Familie und der Werdegang und Zerfall Jugoslawiens etwas verraten können über unser Europa von heute, das Erstarken des Nationalismus, ja auch wieder einmal über Krieg.
Sehe ich meine Musiklehrerin auf der Straße in Višegrad, grüßen wir einander, und nichts weiter. Über das, was war, fällt kein Wort. Im Haus meiner Familie sitzen erinnerte Eltern und erinnertes Ich, jeder macht seines, wir altern und altern nicht, Azra spielen nicht mehr.
Liebes Literaturhaus, liebe Anja, liebes Team, was soll das nun alles heißen? Folgendes, vielleicht, diese Frage: Was soll euer Haus, das als Haus der Literatur auch sofort gleichzeitig unser Haus ist, denn Literatur ohne Leser und Zuhörer zu denken, ist undenkbar – was soll es also musizieren? Welche Instrumente können, welche Kolleginnen und Kollegen werdet ihr mit deren Sprachkompositionen einladen, damit sie das Privileg erhalten mögen, gehört zu werden, sich zu lesen und für sich für euch für uns zu singen ihr Erzählen bei einem hoffentlich komplett hervorragenden Honorar?
Wenn ich mir vorstelle, dass ein Haus musiziert, in dem Literatur sich einfindet und erfindet, stelle ich mir zuerst mehrstimmigen Gesang vor, alle Tonleiter, Dur- und Moll, diese selbstverständliche Mannigfaltigkeit der Literatur an sich.
Und weiter: genreübergreifende und performative Stücke, gern in Allianz mit echter Musik. Weitgereiste (auch in die Fantasie) Interpreten, bestenfalls mit Weltgereistem im Gepäck wie es das arabischheinischbosnische Gedicht ist.
Erinnern Sie sich an das Hochhaus, das Schatten warf auf unser Haus? Global fallen Schatten auf unsere schiere Existenz – ganzer Regionen, der Demokratie, des Planeten. Es geht uns nicht gut. Nicht allen, nicht überall.
Im Haus der Literatur erklingt davon das Echo. Dessen also, was ist, und aber hoffentlich stets auch mit Ideen umfasst zu dem, was sein könnte. Wie wollen und können wir leben?
Literatur kann ja nicht Tempo-100 beschließen oder den Goldregenpfeifer wieder in Deutschland ansiedeln. Die Frage ihres Sinns angesichts der Krisengröße stellt sich dennoch nicht: Noch haben nicht genug Menschen und Industrien und Politiker begriffen, wie sehr am Dampfen die Kacke ist. Und da ist mir gelegentlich eine Literatur als Gebrauchstext auch lieb, als Aufklärung und Aktion.
Ein Literaturhaus kann dafür Bühne bieten und sogar aktiver Ort der Gestaltung sein – aus dem Sprechen über die Katastrophe. Nach außen hin offen für das Ausprobieren von Szenen und Wegen, die bestenfalls Empathie erzeugen für die Sache der Gerechtigkeit, der Freiheit, der sozialen Teilhabe. Mein ideales Literaturhaus ist auch ein ideelles, es regt zum Singen an, regt an, etwas zu tun. Mein ideales Literaturhaus spielt Zukunftsmusik.
Wir leben in einer Welt, in der Wissenschaftler zum zivilen Ungehorsam aufrufen, so Fünf-vor-Zwölf ist es. Ich wünsche mir von der Literatur, auch von meiner, und von diesem Literatur-Ort dasselbe: Wagnis, Dringlichkeit, Kampf. Eine Bühne mehr gegen die Apokalypse! Fachlich fundierte Orientierung gegen den Untergang!
Moment mal, Stop. Literatur als Handlungsaufforderung und Protest? Ja, kein Witz, in Schönheit scheitern, kommt mir zynisch vor. Kann ein literarischer Text das aber überhaupt – tun? Das werde ich in den kommenden sieben Stunden erörtern.
Nein, die eigentliche Frage lautet: Wieviel (Wenigtun) hält unser Planet noch aus?
In Indien ist über Tage hinweg knapp 50 Grad heiß. In der halben Stunde, in der ich hier stehe und Sprachspielchen vorführe, sind ein Dutzend Spezies ausgestorben. Die ohnehin schwerwiegenden Hungersnöte werden aufgrund des russischen Kriegs gravierender, gerade in den ärmsten Regionen. Dennoch nimmt das Spekulieren mit Lebensmitteln weiter zu, treibt die Preise in die Höhe. Der Raubbau von Ressourcen, als Markt getarnt, geht weiter. Den Wohlstandstandard lassen wir uns nicht nehmen, ja, ja, ach, das bisschen schlechtes Gewissen, pflanz ich eine Tanne.
Ich wünsche mir hier einen Ort, an dem man jene einlädt, die Alternativen formulieren. An dem man sich an das Unmenschliche nicht noch weiter gewöhnen will. Wohlwollende Sentimentalität gibt es woanders zu Genüge, ich wünsche mir pragmatische Lieder zwischen Wissenschaften, Utopien und sehr guten Geschichten.
Ich lese so oft »unfassbar« als Erwiderung auf all das Grauen, so oft: »mir fehlen die Worte«. Ein heutiges Literaturhaus findet jene, denen sie nicht fehlen. Lädt die ein, die das Unfassbare erzählend fassbarer zu machen suchen. Wie das musikalisch klingt? In meiner Vorstellung so Death Metal mäßig geschrien, bloß etwas klarer, rein akustisch.
Sie erinnern sich an den Busbahnhof und vom Singen über das, was man nicht hat?
Das vermag ein Literaturhaus auch: Jenen das Mikrofon auf die passende Körpergröße stellen, die von dem singen, was nicht naheliegend ist. Was nicht jeder kann. Ein Literaturhaus singt mit der Stimme von Minderheiten, singt vom Unvorstellbaren. Der Krieg schien vor Kurzem einmal wieder so: unvorstellbar.
Ja, was musiziert nun ein Literaturhaus im Krieg? Es öffnet sich solidarisch und bittet um jene Geschichten, die wegen des Kriegs entstanden sind. Literatur also als Zeugin, Literatur, die Zeugnis ablegt und Verse, die vor dem »… und dann kam der Krieg.« singen lässt. - Wie klingen verhallte Warnungen? Wie gehen wir, die Frage stellt sich unentwegt, mit Täterschaft um?
(Selbstverständlich bleibt auch für Literatur noch Platz, die private Krisen des älteren Herren mit Wohnsitz am Ufer eines schönen Sees erzählt, der jedes Jahr einen längeren Tagebucheintrag veröffentlicht, in dem er auf die Jahre seines Lebens am Ufer eines schönen Sees, eines Lebens in Relativsätzen, zurückblickt. Halt vielleicht nicht so viel Platz.)
Die Melodien müssen nicht ausschließlich düster dissonant sein, nein. Ein Literaturhaus heute hat auch einen Fensterblick auf Aussichten. Das gab es hier neulich als wir durch offene Fenster der Stadt erzählten, Musik war davon integraler Bestandteil, und das braucht es auch: Ein Literaturhaus tanzt, tanzt – allem zum Trotz.
Einen letzten Musikwunsch habe ich, einen schwer erfüllbaren, da er etwas betrifft, das wir am wenigsten beeinflussen können: das Publikum. Ich wünsche mir dynamische Beschallung der kompletten Stadt. Ein Literaturhaus hat per se erst einmal mit der Statik des Bildungsbürgertums zu tun. Mit dem Verlässlichen. Das auch kommt, wenn große Namen wie der Stanišix kommen. Ute sitzt zu jeder Veranstaltung da in der ersten Reihe, egal wer kommt, weil alles gleich erwartbar ist, und Hansjörg sitzt hinter Ute, er kommt nicht wegen Literatur, sondern wegen ihr, ist ja auch schön.
Schöner wäre es, auch zusätzlich diejenigen zum Kommen zu animieren, für die ein Kulturbesuch eine Hürde darstellt – finanziell oder sozial oder denkmustermäßig. Wenn man also gleich viel Mühe in die Akquise der Literatur steckt wie in die Akquise des Publikums. Um unsichtbare Schallgrenzen zu sprengen, darum geht es – die gibt es – um sichtbar und hörbar zu bleiben in der ganzen Stadt und nicht nur im Altbauviertel.
Und ich weiß aus der Vergangenheit, dass das hier der Fall war, der Versuch. Ich hoffe, er wird in der Zukunft erfolgreich sein.
Die Musik, die ein Literaturhaus spielt, ist die Musik derer, die das Haus sind. Sie ist die Musik der Stadt, in der das Haus wächst, sie ist Lust und Kraft der Menschen, die es gestalten und verwalten und nach einer Lesung den besoffenen Autor ins Hotel auf einer Schubkarre verfrachten.
Ich vertraue meinem Gefühl und meiner Erfahrung sehr – so oft war ich selbst schon Gast hier, und werde es hoffentlich noch oft sein – dass ihr, liebe Anja, liebe Gesa, und liebes Literaturherbst-Team, das alles hier so was von schaffen werdet. Auf dieser Reise in all den Liedern wünsche ich vom ganzen Herzen hunderte formidable Ankünfte.
Und dass ich wieder bald vorsingen darf.